La Réunion in acht Textinseln

Momentaufnahmen zwischen Vanilleduft, Wassereimern und einem stillen Buddha mit Blick aufs Meer
Ich hatte keinen Plan. Vulkan, Meer, Wanderschuhe – mehr nicht.
Aber diese Insel erzählt anders.
Nicht linear, nicht logisch – sondern in Fragmenten. In Halbsätzen. In Fundstücken.
Also habe ich nicht systematisch notiert, sondern textinselig.
Manchmal im Kopf. Meist mit Stift. Oft mit offenem Mund.
Zwischen Steilhang und Suprette, Schraubenbaum und Schlüsselverlust.
Was daraus geworden ist?
Kein klassischer Reisebericht. Eher ein Versuch, das Erlebte zu pflücken – ohne es zu glätten.
Vielleicht kommt noch eine achte Textinsel. Oder eine neunte.
Denn diese Insel hört nicht am Flughafen auf.
Mit dabei: Fußbodenmix, Papageientapete, ein paar Wassereimer und Dr. Klang.
(Wer das ist? Lies einfach los.)


Villa Contabonzo
Unser erstes Häuschen auf La Réunion erinnert mich an die Villa Kunterbunt – aber per Diktierfehler wurde daraus Contabonzo.
Contabonzo klingt wie ein Vogelruf. Ein bisschen schräg, aber freundlich.
Philippe, unser Hôte, hat es Stein für Stein gebaut – mit der Sorgfalt eines Bastlers, nicht mit Plan. Das ist sein Geheimnis.
Im Schlafzimmer konkurrieren zwei Fußbodenarten unter meinen nackten Füßen.
Die Wände? Holz, Fliesen, PVC. Und zwei Gardinen, jede mit eigener Länge.
Zwei schief hängende Bilder kämpfen mit der Decke um Aufmerksamkeit – Geschmack? Genie? Je näher ich komme, desto mehr tritt das Unfertige hervor. Und plötzlich passt es.
Im Garten rankt die Passionsfrucht um Autoreifen, die zu Pflanzgefäßen geworden sind. Keine Deko, sondern Improvisation in grüner Farbe.
Jedes Mal, wenn ich auf die Terrasse trete, spüre ich: kein Stil, aber Geschichte.
Was bleibt:
Hier wird nicht kaschiert, sondern gelebt – mit Rissen, Zwischenlösungen und echter Geschichte.
Dr. Klang?
Sitzt auf dem grünen Reifen, zählt Passionsblüten – und murmelt: „Rien n’est parfait. Mais tout est là.“
Der orange Schlüssel
Der Tag ist ruhig gestartet, bis ich merke: Mein Organisationstalent bringt mir heute nichts.
Vor der Tür hängt eine riesige Spinne. Ich bleibe stehen, starre sie an.
Ulf: „Tiger-Spinne – solide, aber ungefährlich.“
Ich denke: Brauche ein Zoom.
Später, im Dschungel von Cilaos: Der orange Schlüssel ist weg.
Voucher-Alarm – unser Code für: jetzt Panik, aber ernsthaft.
Ich wirble alles um – drei Mal. Kein Schlüssel im Rucksack.
Oh Schreck: Tür offen, Auto offen, ich offen – pure Nervosität.
Ulf bleibt ruhig. Ich nenne ihn meinen Wanderbuddha – gelassen bis zur letzten Kurve.

Dann gehe ich weiter. Atme. Fluche.
Am Schluss: Der orange Schlüssel steckt. Ganz still, ganz da.
Was bleibt:
Ich schreibe viel über Resilienz. Heute habe ich selbst Übung im Echtzeit bekommen.
Dr. Klang?
Saß oben mit Thermoskanne. Und schwieg.
Ein Eimer genügt
Ein Sprung ins Inselleben – und plötzlich Alltag ohne Leitungswasser. Streik. Aus.
Wir improvisieren: Ein Eimer fürs WC. Zwei Kanister – Trinkwasser und Abwasch.
Der Buddha bewacht die Flaschen.
Ich koche Artischocken im Flaschenwasser – eine stille Feier.
Das Kochwasser bewahre ich fürs Spülen auf.
Die Wäsche hängt wie ein nasser Hund am Ständer.
Ich überlege kurz, mich dazuzuhängen – zur Abkühlung.
Es regnet leicht. Aber der Wasserstrom fehlt.

Was bleibt:
Wasser ist Luxus. Aber wir brauchen nur einen Eimer – und eine Prise Humor.
Dr. Klang?
Stand mit Regenschirm am Eimer. Und lächelte trocken.
Bleiben – Halbdraußen mit Aussicht
Drittes Quartier. Diesmal nicht nur wohnen, sondern ankommen.
Das Haus? Super Design. Schwarze Armaturen, Lack ab. Lounge mit Poolblick, Kissen durch.
Und trotzdem – oder genau deshalb – setzt man sich.
Innen: Luft, Holzdecke, Küche mit Alltagschaos. Keine Showroom-Romantik, sondern Dinge, die benutzt werden.
Im Bad: Papageientapete. Grell. Wild. Richtig.
Auf der Terrasse: halbdraußen, halbwarm, ganz Aussicht.
Neben dem Bett: Buddha. Dunkel. Ruhig. Nicht für die Deko da.

Was bleibt:
Bleiben ist kein Zustand – es ist eine Entscheidung.
Dr. Klang?
Sitzt im Schatten. Atmet. Und bleibt.
Ein kleines Alphabet der Eigenarten
Die Insel lässt sich nicht nur erwandern – sondern auch erbuchstabieren. Ein paar Lieblingsbuchstaben zwischen Bougainvillea, Buddha und Barfußgefühl:
A – Augenblick
Manche Orte schauen zurück.
Und manchmal seh’ ich mich darin.
Kein Selfie. Kein Schnappschuss.
Ein Blick, der nicht fragt – nur bleibt.
C – Chou Chou
Sieht aus wie eine faltige Birne, schmeckt wie Zucchini mit Höhenangst.
Mäandert am Boden und heißt hier lieber chou chou als Chayote.
Weil’s weicher klingt.
F – Füße verwirrt
Drei Böden unter meinen Füßen – irritierend schön. Mein Herz findet’s stimmig.
G – Gleichmut
60 Stunden ohne Wasser.
Pool im Eimer, Buddha im Bad, Zähneputzen mit Artischockensud.
Ein Eimer reicht. Humor auch.
Q – Quality Time
Nicht messbar. Nicht instagrammbar.
Hier: Wellen zählen. Papageientapete ernst nehmen.
Zuckerrohr bestaunen, als wär’s Kunst.
U – Ulf
Mein Reisebegleiter. Spricht NATO-Alphabet, denkt buddhistisch, verliert seltener die Fassung.
Voucher-Alarm? Er sagt’s sanft. Ich raste innerlich.
X – X-beliebige Buddha-Figur
In jedem Haus, auf jedem Sims.
Aber dieser – zwischen Dusche und Bett – bleibt.
Weil er nicht glänzt. Sondern zuhört.
Y und Z fehlen dir?
Das Alphabet geht weiter – mit Zourite, YES und ein paar salzigen Erkenntnissen:
Hier findest du das vollständige „Alphabet der Eigenarten – La Réunion von A bis Z“
Was bleibt:
Manche Orte kann man nicht einfach abhaken – man muss sie durchbuchstabieren.
Und manchmal reicht A bis X, um zu merken: Diese Insel hört nicht bei Z auf. Sie bleibt.
Dr. Klang?
Hat die letzten Buchstaben längst aufgeschrieben. In Sand.
Und sie dann dem Wind überlassen
Botanische Fundstücke
Ich reise mit Gärtnerinnenherz – und entdecke überall Bekannte. Nur eben: in ihrer wilden Version.
Mein Wandelröschen? Klettert über Zäune.
Die Prinzessinnenblume? Hat Aufstand gelernt.
Und dann: ein Weihnachtsstern. Kein Töpfchen, keine Schleife – sondern drei Meter hoch, Ego in Rot.
Ich: kurz beschämt.
Er: blüht. Selbstverständlich.
Mehr dazu im botanischen Reiseartikel: „Mein Weihnachtsstern macht auf wild“
Und zwischen all diesen Begegnungen sammle ich Fundstücke – vertraut und fremd, rau und schön:

Agave
Ein einzelner Blütenschaft über dem Hang. Weiße Blüten. Unten gezackte Blätter. Einmal blühen – dann sterben.
Schraubenbaum
Gedrehter Stamm. Steht im Sand wie ein Denkmal. Lieblingsplatz für Agamen.
Heliotropbaum
Weiches Grau, violette Blüten mit gelbem Zentrum. Als hätte Lavendel bei Salbei übernachtet.
Was bleibt:
Alles wächst – nicht trotz der Umstände, sondern mit ihnen.
Dr. Klang?
Er sitzt im Schatten des Schraubenbaums – und hat den Weihnachtsstern offenbar längst verstanden.
A long and winding road

Die Iris begrüßt den Sommer in den Bergen.
Nicht wie die 400 Kurven nach Cilaos – aber ähnlich schwindlig.
Eine Rückreise in 28 Stunden.
Vom letzten Kaffee auf der Terrasse bis zum Regen vor der Haustür:
Mauritius, Istanbul, Athen – Namen wie aus einem anderen Leben.
Nur dass man dazwischen immer wieder denselben Platz einnimmt.
Nur schlechter gelaunt.
Das Gepäck muss nochmal durchleuchtet werden.
Wir auch.
Nachtflug mit Vollmondkino, wenig Schlaf, zu viel Flugzeugessen.
Der Körper flüstert: Ich war doch eben noch am Meer.
Dann: Lounge.
Dann: Ausharren wie eine müde Eule.
Dann: Noch ein Flug. Noch ein Kaffee. Noch ein Warten.
Der letzte Bus, zwei Stunden Autobahn, noch schnell einkaufen.
Ulf schlägt vor, alles gleich auszupacken. Ich lächle schwach.
Heute Abend:
Bergblick statt Meerblick.
Regen und Kühle statt halbdraußen.
Der Weihnachtsstern? Verblüht.
Dafür blüht die Iris – leise, klar, bereit.
Aber: Manche Inseln reisen mit.
Nicht im Koffer.
Sondern im Blick.
Was bleibt:
Ankommen ist nicht das Ziel. Es dreht sich – langsam, manchmal rückwärts, immer weiter.
Dr. Klang?
Der kann beamen.
Aber er wartet auf uns unter der Iris.
Epilog – Abschied mit Aussicht

Drei Wochen sind vorbei.
Der Koffer: kein Souvenir-Shop –
sondern Vanille, zwei Flaschen Cilaos
und ein paar Gläser Insel,
die jetzt auf dem Küchentisch stehen.
Kein Reset.
Eher: eine leise Verschiebung im Blick.
Ein paar Worte, die geblieben sind.
Ein paar Wege, die weitergehen.
Ich freue mich auf mein Zuhause, meinen Garten, meinen Alltag –
ohne weniger gern gegangen zu sein.
Die Berge fehlen nicht. Sie warten.
Was bleibt:
Ich bin nicht verändert zurückgekommen.
Aber bewusster gereist.
Dr. Klang?
Ist längst da.
Zwischen Schraubenbaum und Iris.
Und schreibt weiter.

Kompost & Klartext
Ich bin Dagmar, und Rezerette ist mein Ort für Sprachwildwuchs, mentale Seitentriebe – und praktische Gartenwege.
Zwischen Kompost und Klartext entsteht das, was bleibt.
Alle meine Texte hier sind frei zugänglich.
Du liest gern mit?
Dann freue ich mich über etwas Kompost, wenn du magst.
Wunderschön geschrieben … und besonders die Definition von
„unfertig“ ermutigt zu beginnen ganz ohne den Druck schon ans Beenden denken zu müssen.
Liebe Bärbel, freut mich, dass dir der Text gefällt. Das ist bestimmt auch ein Reizeziel für Euch beide. Liebe Grüße – Dagmar