Alphabet der Eigenarten – La Réunion von A – Z

Wie alles anfing
Es begann mit einem Helikopter.
Oder besser: mit dem Versuch, einen zu buchen.
Am anderen Ende der Leitung: eine Dame mit strenger Stimme und begrenzter Geduld.
Ich: bemüht höflich, bemüht französisch – und spätestens beim Buchstabieren meiner E-Mailadresse auf dünnem Eis.
Ulf trocken: „Warum nutzt du nicht einfach das NATO-Alphabet?“
Ich: „War nie bei der Bundeswehr.“
Also bekam ich Nachhilfe während der Fahrt:
D wie Delta, J wie Juliette und T wie Tango.
Als ich es endlich konnte, sagte ich:
„Jetzt machen wir unser eigenes Alphabet. Eins für La Réunion.“
Und genau das ist hier passiert.
Improvisiert, bestäubt, benetzt – garantiert unvollständig. Und ganz unser Insel
La Réunion erzählt sich nicht in Kapiteln – sondern in Buchstaben.
Nicht logisch, sondern liebevoll. Nicht perfekt, sondern poetisch.
Zwischen Vulkankante und Vanille, Moskito und Mangobäumen haben wir gesammelt:
- Beobachtungen,
- Begriffe,
- Begegnungen.
Alltagsinseln (A–H)
Wo Gewohnheiten kippen, Barfuß Mut braucht und ein Eimer genügt.
Augenblick
Manche Orte schauen zurück.
Und manchmal seh’ ich mich darin.
Kein Selfie. Kein Schnappschuss.
Ein Blick, der nicht fragt – nur bleibt.

Barfuß
Geht angenehmer als gedacht.
Auf Fliesen und Holz, manchmal auch mit Ameisen.
Der Fuß gewöhnt sich. Die Haltung zieht nach.
Irgendwann merkt man: Schuhe sind überbewertet.

Chou Chou
Das Lieblingsgemüse der Insel. Sieht aus wie eine faltige Birne, schmeckt wie Zucchini mit Höhenangst.
Mäandert am Boden, nennt sich auch Chayote – aber hier ist es chou chou. Weicher. Heimischer.

Dodo
Bier mit Kultstatus und Vogel drauf.
Heißt offiziell „Bourbon“, aber niemand sagt das.
Denn: „La dodo lé la.“ Und wer das versteht, hat die Insel verstanden.

Enchâssement
Spitzenborte aus Holz.
Verschnörkelt, weiß, ein bisschen zu viel – und genau deshalb schön.
Hängt unter jedem Blechdach wie ein Lächeln am Haus.
Man nennt es auch Lambrequin – ein Wort, das klingt, als hätte es eine Schleife.
Und genau das macht die Fassaden: stolz, verspielt und ein wenig eitel.

Fußbodenmosaik
Parkett küsst PVC küsst Fliese.
Verwirrt die Füße, wärmt das Herz.

Gleichmut
60 Stunden ohne Wasser.
Französischer Streik, volle Eimer, leere Nerven.
Im Bad: Buddha. In der Küche: Poolwasser.
Zähneputzen mit Artischockensud.
Wäsche tropft. Ich fast auch.
Gleichmut ist, wenn du weißt:
Ein Eimer reicht. Humor auch.

Halbdraußen
Nicht ganz drin. Nicht ganz draußen.
Terrasse, Küche, Leben – alles fließt, atmet, hört nie ganz auf.

Eigenarten & Eigenwilligkeiten (I–R)
Zwischen Rhum und Realität.
Inondation
Regen. Beleidigend in Intensität und Absicht.
Der Name klingt poetisch – die Wirkung ist alles andere.

Jet d’eau
Kein Fontäne-Ziergehabe.
Sondern: Wasser in Fallstudie.
Von oben nach unten. Mit Wucht, mit Anmut, mit allem.
Plätschern war gestern.

Kaz
Unser erstes hieß offiziell Kaz Fleur Vanille.
Für mich: eine Villa Kunterbunt.
Die Diktierfunktion machte daraus „Contabonzo“.
Besserer Name. Mehr Seele.

Warum ich Contabonzo besser finde? Hier die Geschichte zur Kaz Fleur Vanille?
Linsen
Meist auf den Ilêts von Cilaos.
Unaufgeregt und völlig unterschätzt.
Still, nussig, salzarm – mit viel Piment alles gut.

Moskito
Nicht zu sehen. Kaum zu hören.
Kommt, sticht, juckt – gewinnt immer.

Nichts tun
Nicht geplant. Passiert trotzdem.
Und dann geschieht alles andere.

Orange
Die Farbe des Schlüssels.
Die Farbe der Warnung.
Die Farbe des Trosts.
Er schließt die Tür zu unserer Kaz – wortwörtlich.
Und öffnet etwas anderes: das Verständnis dafür, dass auch Ordnung manchmal ins Wanken gerät.
Dass Klarheit nicht glänzen muss.
Und dass ein farbiger Schlüssel reicht, um anzukommen.

Hier die ganze Zen Schlüsselgeschichte.
Piton
Vulkangiganten. Einer heiß (Fournaise), einer hoch (Neiges).
Majestätisch, unbesteigbar ohne Fluchen.
Und Nebel ist sowieso schneller als du.

Quality Time
Nicht messbar. Nicht instagrammbar.
Quality Time auf La Réunion heißt:
Wellen zählen.
Zuckerrohr bestaunen.
Papageientapete ernst nehmen.

Rhum
Nicht nur ein Getränk.
Ein Gesprächsstarter. Eine Wissenschaft.
Mit Vanille, Ingwer oder Tamarinde.
Man trinkt ihn nicht. Man lässt sich erzählen.

Zwischen Selbst, Salz und Zourite (S–Z)
Dabei: Schraubenbäume, Selbstironie. Und Ulf.
Sel
Nicht nur eine Zutat. Eine Haltung.
Das Meer trocknet. Das Salz bleibt.
Ohne Salz kein Geschmack.
Ohne Salz kein Leben.
Ohne Salz kein ABC.

Terrasse
Halbdraußen.
Halbwarm.
Halbsonnig.
Ganzer Ausblick.

Ulf
Mein Reisebegleiter. Spricht NATO-Alphabet, denkt buddhistisch, verliert seltener die Fassung.
Voucher-Alarm? Er sagt’s sanft. Ich raste innerlich.

Vanille
Die echte. Nicht die aus der Tube.
Von Hand bestäubt, in der Sonne fermentiert.
Duftet nach Geduld. Und Liebe.

Weitere Botanische Fundstücke von Agave bis Weihnachtsstern.
Wellenwarten
Ich sitze. Und starre.
Die Wellen tun, was sie wollen.
Krach. Gischt. 90 Dezibel.
Nichts mit Räucherstäbchen, nur dieser Moment, der bleibt, wo er ist.

X-beliebiger Buddha
In jedem Haus, auf jedem Sims.
Kein Glanz. Kein Getue. Nur Stille.

YES
Nicht gerufen. Eher gedacht.
Ein inneres Nicken, wenn alles stimmt.
Luft warm. Mangobäume leer. Und nichts fehlt.
Ich atme. Ich bleib. Ich bin da.

Zourite
Oktopus auf Kreolisch.
Auf dem Markt: wild. Auf dem Teller: zart.
Kaut sich wie ein Gespräch, das du nicht verstehst – aber fühlst.
Was bleibt
Ein Alphabet, das mehr offenlässt, als es erklärt.
La Réunion ist keine Insel, die man durchquert – sie wandert durch einen zurück.
Mein Reise-Mosaik findest du hier: Reisebericht – La Réunion in acht Textinseln
Dr. Klang?
Hat das ganze Alphabet notiert.
Dann die Seiten gefaltet. Und mit der nächsten Böe losgeschickt.

Kompost & Klartext
Ich bin Dagmar, und Rezerette ist mein Ort für Sprachwildwuchs, mentale Seitentriebe – und praktische Gartenwege.
Zwischen Kompost und Klartext entsteht das, was bleibt.
Alle meine Texte hier sind frei zugänglich.
Du liest gern mit?
Dann freue ich mich über etwas Kompost, wenn du magst.