Ein persönlicher Essay über Liebe, Sprache und ein Leben zu zweit.

Wie kann ich über Liebe schreiben, ohne zu nerven – und ohne in rosaroten Kitsch oder zynische Distanz zu verfallen?
Eher schwierig. Und doch versuche ich es.
Denn die Frage bleibt: Was ist das eigentlich – Liebe?
Ein Gefühl? Ein evolutionärer Trick? Ein kulturelles Konstrukt?
Oder ein Etikett, das wir auf alles kleben, was wir nicht anders benennen können?
Ich grabe nach den vielen kleinen Wurzeln dieses großen Begriffs. Sprachlich, historisch, biologisch. Vielleicht findet sich unterwegs eine Überraschung.
Wortwurzelgeflüster
Bevor ich frage, was Liebe ist, frage ich: Woher kommt sie eigentlich – sprachlich gesehen?
Im Deutschen steckt Liebe in einem alten Kleid: dem althochdeutschen liubi. Es bedeutet „gut“, „angenehm“, „liebenswert“. Sanft, verbindlich, fast höflich. Auch im Englischen: love, über lufu, zurückzuführen auf die indogermanische Wurzel leubh- – „gernhaben“, „begehren“. Da schimmert zum ersten Mal ein Verlangen durch – nicht nur Nettigkeit.
Aber auch im Lieben lauert ein lüsterner Schatten: libet – „es gelüstet“ – von dem sich libido ableitet. Hier wird aus Liebe schnell Lust. Das Lateinische ist da ehrlich.
Die romanischen Sprachen schlagen eine andere Tonart an: amor (Latein), amour, amore, amor. Alles geht zurück auf amare.
Fünf Buchstaben, weich im Klang, offen im Vokal. Und doch: Woher dieses Wort stammt, weiß niemand so genau. Die Etymologie zuckt mit den Schultern.
Ich verliere mich – nicht in der Grammatik, sondern in der Vorstellung:
Was, wenn amare gar keine Wurzel hat, sondern ein Laut ist – ein Gefühl, ein Bedürfnis?
Vielleicht ist es kein Ableger, sondern ein Urschrei. Ein sprachgewordenes Sehnen nach Nähe.
Aber Liebe ist nicht nur Süße. Wer Amore sagt, muss auch Amaro kosten.
Im Italienischen liegt zwischen der Liebe (amore) und der Bitterkeit (amaro) nur ein Buchstabe – aber ein herber.
Vielleicht sind es genau diese Töne, die Liebe vollständig machen.
Ohne das Bittere bliebe nur die Süße – und die allein macht nicht satt.
Oder ist das alles romantischer Unsinn?
Oder genau das, worum es bei Liebe geht: ein Versuch, dem Unfassbaren einen Laut zu geben.
Zum Abschluss die Griechen. Sie gaben der Liebe vier Namen:
• Eros – der wilde, körperliche Drang, oft unkontrollierbar, oft zerstörerisch.
• Philia – freundschaftliche, gleichberechtigte Zuneigung, die sich Zeit nimmt.
• Storge – die ruhige, beständige Liebe zwischen Eltern und Kindern.
• Agape – die selbstlose Liebe, jenseits von Besitz und Begehren. Die, die gibt, ohne zu fordern.
Vier Worte, ein Gefühl – oder besser: vier Versuche, das Unsagbare sprachlich in den Griff zu bekommen.
Von der Sprachwurzel in die Tierwelt
Sprache versucht, Liebe zu fassen.
Aber vielleicht war sie längst da, bevor jemand das erste „Ich liebe dich“ über die Lippen brachte. Vielleicht begann alles nicht mit einem Wort – sondern mit einem Blick, einem Laut, einem Nest.
Auch Tiere zeigen Zuneigung, manche sogar Treue. Vögel – diese romantisch überhöhten Symbole der Treue leben oft monogam. Nicht aus Moral, sondern aus biologischem Kalkül. Und dennoch: Stirbt ein Partner, trauert der andere oft sichtbar.
Ist das Liebe? Oder Instinkt? Ein biochemischer Nebeneffekt von Brutpflege?
Die Biologie kennt Dopamin, Oxytocin und andere Tricks. Sie erklären Paarbindung, Kuscheldrang, Nestbau. Aber erklären sie Liebe?
Wenn zwei Schwäne einander ein Leben lang begleiten – ist das romantisch oder schlicht effizient?
Vielleicht ist der Unterschied nicht, ob wir lieben.
Sondern nur, wie viele Worte wir dafür brauchen.
Von Kieselstein zu Klunker
In der Antarktis überreicht das Pinguinmännchen seiner Auserwählten einen Kieselstein – nicht aus Sentimentalität, sondern weil Steine rar und für den Nestbau überlebenswichtig sind.
In der Zivilisation überreicht der Homo sapiens seiner Auserwählten einen Diamanten – auch nicht unbedingt aus Sentimentalität.
Der eine will Nachwuchs sichern, der andere vielleicht die Beziehung, den Status oder sich selbst vor dem Alleinsein retten. Der Stein bleibt Stein – nur der Schliff variiert.
Was bei den Pinguinen ein evolutionärer Deal ist, wird bei uns zur emotional aufgeladenen Geste – teuer, glänzend, symbolisch.
Und doch: Der Ursprung ist derselbe. Ein Stein als Versprechen. Ein Stein als Beweis.
Kiesel oder Glanz –
Pinguin oder Cartier?
Liebe trägt Steine.
Liebe in Zeiten des Kapitalismus oder wenn der Stein zum Statement wird
Ob Pinguin oder Mensch – der Stein spielt seine Rolle. Der eine schenkt Kiesel für den Nestbau, der andere Karat für das Eheversprechen. Doch was als romantische Geste erscheint, hat oft einen wirtschaftlichen Subtext.
In den 1940er-Jahren veränderte ein einziger Werbeslogan die westliche Symbolik von Liebe: A Diamond is Forever. De Beers machte den Verlobungsring mit Edelstein zum Must-have, nicht aus Tradition, sondern aus Marketing.
Und plötzlich war Liebe nicht nur ein Gefühl, sondern ein Investment.
In anderen Kulturen war Schmuck schon immer mehr als Dekoration. In Indien etwa wird die Braut mit Gold behängt – ein Zeichen von Status, Stolz und Sicherheit. Aber auch eine Überlebensversicherung. Der Schmuck gehört ihr allein. Niemand darf ihn verpfänden, nicht einmal der Ehemann.
Schmuck in Liebesbeziehungen ist selten nur Schmuck.
Er ist oft ein Spiegel von Macht, Besitz und patriarchaler Praxis.
Valentinstag, Verlobungsring, Brautschmuck – alles mit Preisetikett.
Liebe beginnt bei mir
Ich weiß, es klingt nach Psychosprech – aber ich glaube trotzdem daran:
Wer sich selbst nicht lieben, akzeptieren, wertschätzen kann, wird sich auch mit der Liebe zu anderen schwer tun.
Ich habe es oft gesehen: Menschen, die in Selbstverachtung leben, können Nähe kaum ertragen. Die eigene Unsicherheit wird zum Filter – jede Zuwendung wird angezweifelt, jede Ablehnung überhöht.
Wer in sich selbst kein Zuhause findet, bleibt auch in Beziehungen heimatlos.
Selbstliebe ist keine rosige Selbstverliebtheit.
Sie ist die nüchterne Fähigkeit, mit sich selbst auszuhalten – an schlechten Tagen, mit Ecken und Unfertigkeiten.
Und erst wenn das gelingt, wird aus Liebe nicht Bedürftigkeit, sondern Begegnung.
Was Liebe nicht ist
Manchmal wird Liebe mit etwas verwechselt, das ihr Gegenteil ist.
Mit Überfürsorglichkeit zum Beispiel – wenn jemand sich selbst aufgibt, um für andere da zu sein. Klingt nobel. Ist es aber nicht. Es ist oft Kontrollbedürfnis im Deckmantel der Selbstlosigkeit.
Ein unausgesprochenes „Ich brauche, dass du mich brauchst.“
Und dann gibt es das andere Extrem: Menschen, die in ihren eigenen Bedürfnissen ertrinken. Die nehmen, verlangen, fordern – und nie auf die Idee kommen zu geben.
Auch das wird oft Liebe genannt. Es ist aber eher ein emotionaler Raubbau mit romantischer Verpackung.
Weder Aufopferung noch Ausbeutung sind Liebe.
Liebe ist nicht einseitig. Nicht bedingungslos im Sinne von: „Ich tue alles, du nichts.“ Sie braucht Balance, Ehrlichkeit, ein Gespür für die Grenze zwischen Ich und Wir.
Und ich?
Was ist Liebe – für mich?
Ich habe keine Definition, nur Fragmente.
Manchmal war Liebe für mich Nähe, manchmal Flucht. Manchmal Stille.
Ich weiß, wie sie sich anfühlt, wenn sie geht.
Ich habe geliebt, aus Fülle. Und ich habe geliebt, aus Mangel.
Ich habe gegeben, um zu verbinden. Und gegeben, um nicht zu verlieren.
Liebe ist nicht das große Drama. Nicht das Kino, nicht das Kribbeln, nicht der Knall.
Liebe ist, wenn jemand bleibt, wenn es unbequem wird.
Wenn Nähe keine Bedrohung ist, sondern eine Einladung.
Wenn zwei Menschen sich nicht ergänzen – sondern einander Raum lassen.
Unspektakulär und echt.
Drei Jahrzehnte Wir
Ich habe einen Mann.
Ich habe keine Kinder.
Seit über 35 Jahren. Keine Ablenkung. Keine Nebenkriegsschauplätze. Nur wir zwei.
Ein Leben lang Gegenüber.
Es ist nicht die große romantische Oper. Kein ständiges Feuerwerk, keine kitschige Liebesgeschichte mit Happy-End-Montage.
Es ist eher wie ein Haus, das man gemeinsam baut – immer wieder, bei jedem Wetter.
Mal streicht man die Wände neu. Mal knarzt die Treppe. Mal sitzt man einfach nur schweigend auf dem Sofa, und das ist dann Nähe genug.
Wir haben uns.
Und manchmal denke ich: Genau das ist unsere größte Freiheit.
Zwei Alpha-Tiere
Wir sind beide stark.
Nicht zwei Hälften, die sich ergänzen – sondern zwei Alpha-Tiere, die beschlossen haben, ihr Revier zu teilen.
Ein Chemiker. Eine Wirtschaftswissenschaftlerin. Zwei Blickrichtungen, ein gemeinsamer Horizont.
Mit der Unterordnung tun wir uns schwer.
Wir kämpfen manchmal gegeneinander.
Wir brauchen keine Dominanz. Wir brauchen Respekt.
Manchmal streiten wir zu wenig.
Vielleicht, weil ich harmoniebedürftig bin.
Vielleicht, weil Konflikt zwischen zwei Starken auch gefährlich werden kann.
Manchmal wünsche ich mir ein weichgespültes Kompliment.
Ein bisschen Sentimentalität. Ein warmer Satz ohne logische Grundlage.
Aber was wir haben, ist kein Kitsch. Es ist Substanz.
Liebe, die nicht gefallen will – sondern standhält.
Was uns verbindet
Wir machen Dinge gemeinsam.
Die Beziehung leben, miteinander leben.
Wir haben …
Häuser gebaut. Reisen gemacht. Die Welt erkundet – und tun es immer noch, mindestens 100 Tage im Jahr.
Wir überstehen die kleinen Unglücke des Alltags – das kaputte Auto, der nervige Klempner, das verlorene Reisegepäck.
Wir haben Karrieren gestartet. Und Karrieren beendet.
Niederlagen erlebt, die so groß wirkten – und irgendwann doch kleiner wurden.
Vielleicht ist das unsere Form der Liebe:
Nicht große Worte. Sondern geteilte Handlung.
Nicht Drama. Sondern Dauer.
Nicht Flucht. Sondern ein gemeinsames Ankommen – immer wieder neu.
Und manchmal …
Ich schreibe für ihn. Gedichte, ehrlich, kraftvoll, meins.
Und als ich eines teilte, war er verletzt.
Weil es nicht mehr nur ihm gehörte.
Vielleicht ist das Liebe auch:
Etwas, das man bewahren will.
Etwas, das so echt ist,
dass man es ungern aus der Hand gibt.
Was bleibt?
Vielleicht ist Liebe nicht das große Wort, das alles erklärt.
Sondern das kleine Tun, das niemand sehen muss.
Ein Blick, ein Halten, ein “Ich geh mal vor”.
Nicht als Geste. Sondern als Haltung.
Ich habe darüber geschrieben, in einem anderen Text – über eine Brücke ohne Planken, einen Mann mit Rad, und das Vertrauen, das größer war als die Angst.
Vielleicht verlinke ich ihn hier. Vielleicht auch nicht.
Denn am Ende bleibt genau das:
Keine Definition. Keine Theorie.
Nur ein Mensch, der bleibt. Und einer, der geht – und sagt: Wenn du willst, helf ich dir rüber.
Veröffentlicht im Rahmen der Substack-Blogparade „Was bedeutet Liebe für dich?“.